- Verismus und Neue Sachlichkeit: »Weder rein sinnenhaft äußerlich noch rein konstruktiv innerlich«
- Verismus und Neue Sachlichkeit: »Weder rein sinnenhaft äußerlich noch rein konstruktiv innerlich«Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Novemberrevolution von 1918 gaben sowohl der Dada-Bewegung als auch dem Expressionismus, der nun für kurze Zeit auf den Film und die Architektur übergriff, noch einmal Auftrieb. In der Malerei zeichneten sich aber in ganz Europa bereits neue Tendenzen ab, für welche die »naiven« Bilder Henri Rousseaus mit ihrer traumhaften, aber dinglich festen Atmosphäre ebenso Pate standen wie Amedeo Modiglianis eigentümliche Porträts oder Jean Cocteaus »Aufruf zur Ordnung«. Picasso bildete um 1920 einen gegenständlichen Stil mit klassizistisch geformten Figuren aus. In Italien schufen neben Giorgio Morandi die Maler der »Pittura metafisica« um Giorgio De Chirico und Carlo Carrà einen neuen plastischen Realismus, der auf Formen der Frührenaissance zurückgriff und die vermeintlichen Schrecken der Moderne mit der Anrufung eines klassischen Ideals bannen sollte. Dies war auch das erklärte Ziel der italienischen Gruppe »Novecento«.Auch in Deutschland machte sich Anfang der Zwanzigerjahre, bedingt durch die ernüchternden Erfahrungen des Kriegs und der nachfolgenden Hungerjahre, eine neue sachliche Malerei bemerkbar. Die hochfliegenden expressionistischen Ideale, ihr Erlösungspathos und besonders der überzogene Ich-Kult der expressionistischen Künstler wichen einem prosaischen, oftmals zynischen Blick auf die Wirklichkeit, auf wirtschaftliche Not und soziale Gegensätze. Dabei entwickelten sich zwei unterschiedliche Richtungen, der Verismus und die Neue Sachlichkeit. Während der Verismus in Berlin durch die satirisch überspitzten, gesellschaftskritischen Darstellungen des Großstadtlebens von Otto Dix, George Grosz, Christian Schad und Rudolf Schlichter geprägt wurde und darin eher dem Protest von Dada folgte, erschien die Neue Sachlichkeit, vertreten vor allem durch die Münchner Gruppe um Georg Schrimpf und Alexander Kanoldt, wie eine idyllische, neoklassizistische Ausrichtung, die alle gesellschaftlichen Konflikte aussparte. Beide Flügel stellte Gustav Hartlaub 1925 unter dem Titel »Neue Sachlichkeit« in der Mannheimer Kunsthalle gemeinsam aus. Der wenig später von Franz Roh geprägte Ausdruck »Magischer Realismus« konnte sich dagegen nicht richtig durchsetzen.Die provokanteste Position im Berliner Verismus bezog Grosz, der um 1924 nach einer expressionistisch-dadaistischen Phase zu einem Moralisten und bissigen Ankläger der Gesellschaft wurde. Eines seiner Schlüsselbilder, »Die Stützen der Gesellschaft«, stellt die herrschende Klasse durch Masken, Gesten und Attribute sarkastisch bloß. Der karikaturhaft überzogenen Gesellschaftkritik von Grosz steht die eher nüchterne, unterschwellige Schilderung der mondänen Oberschicht von Schad gegenüber. Die lasziven Themen aus der Halbwelt Berlins übertrafen allerdings Schlichter und vor allem Dix bei weitem an entlarvender Schärfe. Durch seine Kriegserlebnisse sensibilisiert, malte Dix die an den Rand der Gesellschaft Gedrängten - Kriegskrüppel, Prostituierte, Bettler -, deren Elend er dem vergnügungssüchtigen Bürgertum vorhielt. Indem Dix sich ab etwa 1925 einer altmeisterlichen Lasurtechnik bediente, gewannen solche Darstellungen mit scharfen Farbkontrasten und peinlich genauen Details noch an unmittelbar treffender Härte.Auch das Selbstverständnis der Künstler blieb von den sozialen Veränderungen und Verschiebungen, die sich im pulsierenden und brodelnden Berlin der Zwanzigerjahre am deutlichsten zeigten, nicht unberührt. Immer wieder befragten sich Dix, Schad, Schlichter oder der zwischen den Stilen wandelnde Einzelgänger Max Beckmann in ihrer Rolle als Künstler. So stellte sich Dix in dem Bild »An die Schönheit« mit einem Telefonhörer statt mit einem Pinsel in der Hand dar, um seinen Anspruch zu belegen, der Künstler dieser Zeit habe sachlich, wie ein Reporter zu arbeiten. Dix war neben Karl Hubbuch und Conrad Felixmüller auch der bedeutendste Porträtist der Zwanzigerjahre. Ihnen ging es aber nicht um eine subjektivistische Sicht der Porträtierten, sondern um einen unsentimental-kühlen Blick auf die Menschen, deren Charakterschwäche und physiognomische Hässlichkeit sie nicht leugneten.Dieser angeblich vorurteilslose, aber oft auch schonungslos-aggresive Blick auf das Leben zeigt sich auch im Film und in der Fotografie dieser Jahre. So wie die Expressionisten die afrikanische Kunst und die Futuristen die Bewegungsfotografie als Bildquelle genutzt hatten, konnten die Künstler der Neuen Sachlichkeit bestimmte Motive in der Fotografie wieder finden: Albert Renger-Patzsch, August Sander und Hugo Erfurth zeigten in ihren Aufnahmen isolierte Dinge in durchdringender Beleuchtung, möglichst ohne Schatten, als fest umrissene Bildelemente; fotografiert wurden technische Objekte, Industrieanlagen, Häuserzeilen, aber auch Pflanzen, deren symmetrische Formstrenge Karl Blossfeldt zu »Urformen der Kunst« (1928) stilisierte. Sachlichkeit und Funktionalität bestimmten auch die zeitgenössische Literatur - etwa die Romane Hans Falladas und Alfred Döblins - und die Bewegung des »Internationalen Stils« wie des »Neuen Bauens« in der Architektur, wie sie Walter Gropius am Bauhaus zum Leitmotiv erhob.Neben Berlin war Dresden ein Zentrum des Verismus. Dort prägte Dix als Professor an der Kunstakademie ab 1927 die jüngere Malergeneration. Die parteipolitische Bindung, die Dix stets entschieden ablehnte, war jedoch für viele Dresdner Maler ein wesentliches Anliegen. Felixmüller, Wilhelm Rudolph, Curt Querner, Hans Grundig, Otto Griebel und Wilhelm Lachnit waren überzeugte Kommunisten und Mitglieder der 1928 neu gegründeten ASSO, der »Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands«. Folgerichtig stammen die Themen ihrer Bilder aus der Welt der Industriearbeiter, des städtischen und ländlichen Proletariats und der kommunistischen Partei. An diese Kunstauffassung konnte später der »sozialistische Realismus« anknüpfen.Der »rechte«, idyllisch-biedermeierliche Flügel der Neuen Sachlichkeit war in München und Karlsruhe beheimatet. Die Münchner Gruppierung um Schrimpf, Kanoldt, Carlo Mense und Heinrich Maria Davringhausen tat sich in einer Stadt schwer, die Ende der Zwanzigerjahre in selbstzufriedener Provinzialität erstarrt war. Die einzige kulturelle Keimzelle war dort die Galerie von Hans Goltz, der vor dem Krieg bereits für den »Blauen Reiter« und die französische Avantgarde eingetreten war; seit 1919 vertrieb Goltz die von Mario Broglio gegründete Kunstzeitschrift »Valori Plastici«, das Sprachrohr der »Pittura metafisica«. De Chirico selbst hatte während seiner Münchner Studienzeit entscheidende Impulse empfangen. Seine erschreckend fremdartige Traumwelt mit erstarrten Gliederpuppen, die inmitten einer statischen Architekturszenerie verharren, scheint auf die Münchner Gruppe den stärksten Einfluss gehabt zu haben. Statt Gesellschaftssatire und Großstadtszenen malten Schrimpf und Mense ruhige Stillleben, konstruktive Stadtlandschaften oder unbelebte Figuren und Porträts in klassizistischer Manier. Wesentlich schillernder ist das Werk von Davringhausen, der sich als Autodidakt schnell an die künstlerische Avantgarde in Berlin anschloss und nach dekorativ-märchenhaften Bildern im Stil Marc Chagalls um 1920/21 zu einer eigenständigen Verarbeitung der neusachlichen Tendenzen fand. 1933 verließ er Deutschland: Unter dem Namen Henri Davring malte er im Exil im Stil der französischen Abstraktion geometrisch-konstruktiv weiter.Als Gründungsmitglied der »Neuen Künstlervereinigung München« war Kanoldt bereits um 1909 mit der französischen Avantgarde und der Abstraktion Wassily Kandinskys in Berührung gekommen, doch er wurde mit ihr nie ganz vertraut. Kanoldt schlug ab 1911 einen anderen Weg ein, indem er Landschaften, Stillleben und Stadtansichten in dem gemäßigten Kubismus André Derains oder im Spätstil Paul Cézannes malte. In seiner neusachlichen Malerei blieben Reste der kubistischen Bildgestaltung erhalten. Der porzellanartig glatte Farbauftrag, die verunklärenden Raumbeziehungen und die einsame Dingwelt verleihen seinen Stillleben eine fast magische Ausstrahlung, die viele Bewunderer und Nachahmer fand. Kanoldt Werk erstarrte jedoch bald zur bildnerischen Floskel. Zu Beginn der Dreißigerjahre wurden viele Künstler der Neuen Sachlichkeit, gleich welcher Richtung, moderater. Georg Scholz wandte sich beispielsweise von dadaistisch geprägten, spöttischen Satiren ab und klassizistisch glatten Aktbildern und stillen Interieurs zu.Mit der Krise der Weimarer Republik setzte das Ende der künstlerischen Freiheit ein. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten riss schließlich auch die naivsten Künstler der Neuen Sachlichkeit aus ihren Träumen. Einige ließen sich für die »Neue Deutsche Romantik« der Kestner-Gesellschaft vereinnahmen und versuchten zeitweilig, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren; andere mussten das Land verlassen oder im Untergrund leben und arbeiten. Wie die anderen modernen Kunststile fielen bald auch die veristische und die neusachliche Malerei, beide spezifisch deutsche Phänomene, unter das Verdikt der »entarteten Kunst«.Dr. Hajo DüchtingDokumente zum Verständnis der modenen Malerei, herausgegeben von Walter Hess. Bearbeitet von Dieter Rahn. Neuausgabe Reinbek 1995.Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.
Universal-Lexikon. 2012.